Die Theorie der Abjektion: Die Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen in Frage Stellen

Theory of Abjection

Das Konzept der Abjektion, entwickelt von der französischen Denkerin Julia Kristeva in ihrem Buch Mächte des Grauens, bietet eine neue Perspektive auf das Verständnis der Beziehung zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ in der Psychoanalyse. Im Gegensatz zu traditionellen psychoanalytischen Theorien, die Subjekt und Objekt als separate Gegensätze betrachteten, schlägt Kristeva eine komplexere und vernetztere Sichtweise vor.

Fragmentierte Identität: Das Selbst und das Andere in der Abjektion

 

Diese neue Denkweise hat unser Verständnis der Grenzen, die das „Ich“ vom „Anderen“ trennen, erheblich beeinflusst. Indem sie die Vorstellung einer vollständigen und intakten Ich-Identität hinterfragt, zeigt die Theorie der Abjektion, dass das, was wir als „Anderes“, „Tabu“ oder „gefährlich“ betrachten, tatsächlich bereits Teil von uns selbst sein kann. Dies macht unsere Vorstellung von Identität noch fragiler, als zuvor angenommen.

 

Körper und Geist: Die angespannte Beziehung in der Abjektion

 

Kristeva untersuchte auch die angespannte Beziehung zwischen Körper und Geist. Sie beobachtete, dass bestimmte körperliche Sekrete und Exkremente psychologisches Unbehagen verursachen, weil sie uns daran erinnern, wie nah wir dem „Anderen“ stehen. Der Körper ist ständig in Prozesse der Abjektion involviert und stößt Substanzen aus, die kürzlich noch Teil von uns waren. Diese Substanzen sind für unser Überleben und unsere Fortpflanzung unerlässlich, aber ihr Zurückhalten kann traumatisch und sogar gefährlich in physiologischer Hinsicht sein.

 

Körperöffnungen und die Fragilität der Grenzen

 

Unter den Exkreten, die als „abjekt“ betrachtet werden, können wir Blut erwähnen (das seit langem Ziel religiöser und moralischer Tabus ist), Tränen, Speichel und Schweiß. Die Körperöffnungen spielen in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, da sie per se „abjekt“ sind. Sie sind Teil des Körpers, aber auch ein Ein- (oder Ausgang) für seine Integrität und stellen die Fragilität der „Ich“-Grenzen auf eine Weise dar, die intakte Haut niemals könnte.

 

Die von diesen Öffnungen ausgestoßenen Substanzen haben eine besonders starke abjekte Qualität. Der dramatischste Fall ist der des Exkrements, dessen Zurückhalten den Körper buchstäblich vergiften kann. Auch Sperma trägt diese Qualität, da es für die Fortpflanzung zentral ist, aber dennoch von religiösen Tabus und medizinischen Aberglauben umgeben ist, sogar heute noch. Die schleimigen Sekrete aus den Ohren und der Nase stellen ihrerseits ständig wechselnde Grenzen dar, da sie weder fest noch flüssig sind. Eiter, mit seiner viskosen und infektiösen Natur, kann ebenfalls ein ähnliches psychologisches Trauma hervorrufen, indem er eine Grenze durch eine zuvor gesunde Fleischwunde erzwingt.

 

Abjektion zwischen Leben und Tod

 

Die Grenzen zwischen Leben und Tod sind ebenfalls psychoanalytisch abjekt. Die Geburt ist ein Moment voller Flüssigkeiten und Exkrete, wobei das Baby selbst eine Art Exkrement ist, das in dem Moment auftaucht, in dem es erscheint, noch kein unabhängiges Wesen ist und kein eindeutiger Teil der Mutter. Der Tod hingegen bringt die Auflösung und den Übergang zu einem anderen Zustand des Seins, sei es ein Leben nach dem Tod oder das einfache Erlöschen. Wenn ein Leichnam verwest, wird der Beobachter an seine eigene Sterblichkeit erinnert und daran, dass er eines Tages selbst zur Quelle von Ekel oder Infektion für andere werden könnte.

 

Abjektion in der Gothic-Literatur: Übermaß an schlechtem Geschmack oder Spiegel der Sterblichkeit?

 

Abjektion geht daher über bloßen Ekel oder Abscheu hinaus. In der Gothic-Literatur vor dem 21. Jahrhundert wurde das, was wir heute als Abjektion erkennen würden, oft als bloßes Übermaß an schlechtem Geschmack abgetan. Ein Beispiel dafür findet sich in dem Roman Der Mönch von Matthew G. Lewis. In Kapitel 11 wird die Figur Agnes de Medina eingesperrt, und es gibt grafische Beschreibungen des mit Würmern gefüllten Kopfes einer Nonne und des verwesenden Körpers des unehelichen Sohnes des Erzählers. Weit davon entfernt, eine willkürliche Episode zu sein, fungiert diese Szene als ein memento mori (eine Erinnerung an die Sterblichkeit), obwohl ihre Implikationen vom entsetzten Leser verstanden werden, nicht jedoch von der eingesperrten und gequälten Mutter.

 

Dracula und andere abjekte Figuren in der Literatur

 

Viele weitere Beispiele für Abjektion finden sich in der Gothic-Literatur, von ihren Anfängen bis heute. Dracula beispielsweise ist besonders besorgt über die Auflösung von Grenzen, und sein spezifischer Fokus auf Blut als Symbol für individuelle, rassische und sexuelle Identität macht Bram Stokers Roman zu einer häufigen Referenz in der Literaturkritik. Ähnliche Themen finden sich in Das aufgehobene Schleier von George Eliot und in der Fiktion von Autoren wie Arthur Machen, Algernon Blackwood, H. P. Lovecraft und Poppy Z. Brite.

 

Vampirgeschichten standen unvermeidlich im Mittelpunkt einer großen Menge kritischer Schriften über das Abjekte. Viele der auf diese Erzählungen angewandten Interpretationen können jedoch auch auf analoge Phänomene wie Werwölfe, Ghouls und Zombies übertragen werden. All diese übernatürlichen Wesen stellen die Grenzen zwischen Leben und Tod, Mensch und Nicht-Mensch, „Ich“ und „Andere“ in Frage und machen sie zu perfekten Beispielen für Kristevas Konzept der Abjektion.

 

Abjektion in unserem Leben und Kultur

 

Julia Kristevas Theorie der Abjektion bietet eine kraftvolle Linse, durch die wir nicht nur die Gothic-Literatur, sondern auch unsere eigenen Erfahrungen des Unbehagens und der Faszination für das, was unsere Vorstellungen von Identität und körperlicher Integrität herausfordert, analysieren können. Indem wir das Abjekte in unserem Leben und in unserer Kultur erkennen, werden wir eingeladen, die Grenzen zu hinterfragen, die wir für selbstverständlich halten, und die Komplexitäten der menschlichen Erfahrung zu erforschen.

 

Referenzen:

 

Hughes, William. Historical Dictionary of Gothic Literature. Lanham, MD: Scarecrow Press, 2013.

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Diego Quadros

Diego Quadros schreibt Pulp-Fiction-Kurzgeschichten, übersetzt, gestaltet Layouts und arbeitet als Multimedia-Autor.

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Diego Quadros schreibt Pulp-Fiction-Kurzgeschichten, übersetzt, gestaltet Layouts und arbeitet als Multimedia-Autor.

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